Ein Essay zum Thema “Reformperspektiven Sozialer Demokratie” von Fedor Ruhose
Deutschlands Gesellschaft wandelt sich. In einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung hat Rainer Geißler die zentralen empirischen Befunde zusammengefasst (Geißler 2010):
- Die soziale Ungleichheit nimmt in Form einer zunehmenden Polarisierung zwischen Privilegierten und Benachteiligten zu; Reiche und Arme werden immer zahlreicher.
- Im Zuge der Einkommenspolarisierung bröckelt die gesellschaftliche Mitte etwas nach unten ab oder aber fühlt sich auf dem Abstieg. In der sozialen Mitte die Abstiegsrisiken größer und die Aufstiegsmöglichkeiten kleiner geworden sind. Dennoch ist das Selbstverständnis der Westdeutschen als Mittelschichtgesellschaft nicht beeinflusst.
- Erheblich angestiegen sind jedoch soziale Ängste und Unsicherheiten. Die Ausbreitung dieser Ängste in die Mitte, auch in die obere Mitte, ist zum Teil eine Folge des „Spill-Over-Effekts“, ein „Überschwappen“ von unten, bei vielen ohne reale Grundlage.
- Das Normalarbeitsverhältnis – die unbefristete Vollzeitbeschäftigung – ist rückläufig, prekäre Arbeitsverhältnisse wie Befristung, Minijobs und Leiharbeit, die tendenziell mit niedrigen Einkommen verbunden sind, nehmen zu.
- Im Hinblick auf die Generationenmobilität ist Westdeutschland weiterhin eine Aufsteigergesellschaft. Da die Einbrüche im Nettoäquivalenzeinkommen im Osten stärker ausgefallen sind als im Westen, ist der Aufholprozess nicht nur ins Stocken geraten, sondern die West-Ost-Wohlstandslücke hat sich wieder geöffnet.
- Die große Mehrheit der Bevölkerung hat die Polarisierung wahrgenommen. Sie deutet diese als zunehmende soziale Ungerechtigkeit. Gut vier Fünftel empfinden das Ausmaß der sozialen Ungleichheit als zu groß. Die Mächtigen denken allerdings anders.
- Deutschland ist stärker durch Migranten unterschichtet als alle anderen vergleichbaren Einwanderungsgesellschaften.
Wer einen Blick in eine mögliche Zukunft der deutschen Gesellschaft werfen möchte, kann diese in den Reportagen von George Packer finden. Der europäische Kontinent folgt Trends der amerikanischen Gesellschaft meist mit ungefähr zehn Jahren Verspätung nach. Die oben beschriebenen Trends zeigen: Wir haben derzeit die gleiche Richtung eingeschlagen und wissen es noch nicht. Gleich den „Roaring Nineties“ hechten wir von einem ökonomischen Erfolg zum nächsten. Alleine die mittlerweile verfassungsrechtlich verankerte Austeritätspolitik zwingt uns aber dazu, ein neues sozialdemokratisches Projekt zu formulieren. Es gilt, auch in unsicheren Zeiten den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern.
Eigentlich müsste dieser gesellschaftliche Wandel dafür sorgen, dass die Sozialdemokratie mit Erfolg die Wahlen bestreiten kann. Und in der Tat waren die Wahlen in den Bundesländern in der Zeit der Wirtschaftskrise erfolgreich für Rot-Grün, so dass sogar schon über „Rot-Grün 2.0“ gesprochen wurde (Ruhose/Schmitt 2013). Doch kann man international feststellen, dass diese Krisenzeit keine „gute Zeit“ für die progressiven Kräfte darstellt (Fukuyama 2014). Und auch die Wahlanalyse der Bundestagswahl 2013 zeigt, dass die SPD nicht als Problemlöser wahrgenommen wird.[1]
Die gesellschaftliche Verankerung der ehemals großen intermediären Organisationen, insbesondere der Parteien, erodiert. Im Gegenzug sind politische Entscheidungsprozesse immer stärker mediatisiert (Korte 2014: 9). Außerdem ist der politische Diskurs in Deutschland seltsam verflacht. Zum einen wollen die Deutschen die Überparteilichkeit, in der Sonntagsfrage findet die Große Koalition als favorisierte Konstellation immer eine große Mehrheit. Zum anderen wird so die Demokratie geschwächt, denn viele gehen nicht mehr zur Wahl oder wählen den neuen Protest mit Akteuren wie der AfD (vgl. Bertelsmann-Stiftung 2013).
Das alles zeigt: Die SPD hat mit ihrer Programmatik in den vergangenen Jahren nicht auf die Gefühle der Menschen reagieren können. Linke Vordenker haben in den vergangenen Jahren eher analysiert, was alles in der Gesellschaft schief läuft. Tobias Dürr hat daher recht, wenn er festhält: „Nur könnte es sein, dass unbefriedigende Zustände und eine bestimmte Art, verdrossen über diese Zustände zu sprechen und zu schreiben, irgendwann beginnen, sich gegenseitig zu verstärken. Ganz einfach
deshalb, weil die stete Beschwörung ubiquitärer Missstände mutlos macht und lähmt.“ (Dürr 2012)
Hier nun ein Vorschlag, wie auf den gesellschaftlichen Wandel und die kommenden politischen Herausforderungen aus sozialdemokratischer Sicht positiv reagiert werden könnte. Eine Politik, die für die „arbeitende Mitte“ oder die „solidarische Mehrheit“ oder eben die „soziale Mitte“ attraktiv ist. Nur durch die Stärkung der Mitte kann es auch gelingen Deutschland als soziale Demokratie in Zeiten von Austerität und Schuldenbremse zu erhalten. Diese werden die nächsten Jahre prägend sein. Da es hier aufgrund hoher Hürden keine Veränderung kommen wird, muss die SPD ein Programm formulieren wie wir alle zusammen – die Gesellschaft – Deutschlands ökonomischen Erfolg und den sozialen Zusammenhalt langfristig sichern.
Die sorgende Gesellschaft und ihre Herausforderungen
Folgt man dem Wissenschaftler Robert Gordon so stellen sich den internationalen Industrienationen sechs Herausforderungen, die die Innovationstätigkeit heutzutage bremsen: Demografie, Bildung, Ungleichheit, Globalisierung, Energie und Umwelt sowie die hohe Verschuldung privater und öffentlicher Haushalte (Gordon 2012). Außerdem: Blickt man empirisch auf das Wirtschaftswachstum, dann spricht viel für die wahrscheinliche Unausweichlichkeit der Postwachstumswirtschaft. Bei sinkenden Wachstumsraten gilt es zum einen bis zum Jahr 2020 die Schuldenbremse einzuhalten und zugleich auch die Infrastruktur- und Bildungsinvestitionslücken zu schließen. Dafür muss eine Gesamtlücke im Umfang von rd. 5 Prozent des BIP ausgeglichen werden (Deubel 2011).
Aufstieg- und Bildungschancen werden zunehmend geringer. Dies führt dazu, dass viele Leute ihr Können und Potential nicht voll entfalten könnten. Es gibt sogar Tendenzen, dass es erstmalig in der Moderne dazu kommt, dass es nachfolgenden Generationen schlechter gehen könnte als vorhergehenden. Kocka und Merkel weisen zudem daraufhin, dass die Logiken von Kapitalismus und Demokratie sich heute als so verschieden erwiesen, dass zwischen beiden zwangsläufig Spannungen auftreten müssen (Kocka/Merkel 2014) und ja auch derzeit zu beobachten sind (Ruhose/Schmedes 2014).
Es bedarf eines neuen sozialdemokratischen Politikentwurfs jenseits der Alternativlosigkeit, der auf die Stärke der Zivilgesellschaft setzt, der Gesellschaftlichen Zusammenhalt in schwierigen Zeiten ermöglicht. Deutschland geht es derzeit gut, diese Zeit sollte genutzt werden, die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) der Gesellschaft zu erhöhen. Der Aufstieg der AfD, die schwache Wahlbeteiligung und das sinkende Vertrauen in die Parteien bei gleichzeitig steigenden Ansprüchen an den Staat machen dies besonders notwendig.
Dieser Politikentwurf, der hier vorgeschlagen wird, versucht das Leitbild einer Caring Community – der sorgenden Gemeinschaften[2], einem Begriff aus der Behinderten- und Pflegepolitik – mit einem tragfähigen Konzept zu hinterlegen, das sich nicht als „Revolution“ darstellt, sondern in einer realpolitischen Pragmatik erarbeitet wurde. Er greift die gute alte progressive Tradition auf, „nahe an der Basis zu arbeiten, unter den Menschen zu sein“ (Perger 2014) und ist in diesem Sinne Populistisch.
Die Zeit ist reif für einen neuen Politikentwurf
In unserer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft bedarf es des Zusammenwirkens von sozialen Netzwerken, der Selbstorganisation von Bürgerinnen und Bürgern mit staatlichen Instanzen und Institutionen. Eine Politik, die diesem Grundsatz folgt setzt lebendige Nachbarschaften voraus, die weiterhin das Rückgrat des sozialen Miteinanders vor Ort bilden. Das verlangt nach entsprechenden Ressourcen und Kompetenzen vor Ort; von Kindertagesstätten über die örtlich präsente Jugendhilfe bis zum Quartiersmanagement.
Es hat sich in den ganzen Jahren kein neuer Gesellschaftsvertrag etabliert, der eine neue Rolle der Zivilgesellschaft bestimmt, die finanziellen und demographischen Bedingungen der Gesellschaft und auch die Handlungsfähigkeit des Staates berücksichtigt. Das Leitbild des vorsorgenden Sozialstaats ist nicht stark genug gewesen. Die Sozialversicherungen werden vielmehr weiterhin genutzt, um gesellschaftliche Aufgaben zu finanzieren. Die Steuer finanzierten Leistungen (Fürsorgeprinzip) werden im Wesentlichen über die Einkommen der „arbeitenden Mitte“ finanziert.
Sozialen Zusammenhalt und gesellschaftliche Entwicklung sichern im Zeichen der Schuldenbremse bedarf neuer Anstrengungen. Es geht darum neue Allianzen zu schmieden, die sorgende Gesellschaft zu erbauen: Unternehmen, Bürgerinnen und Bürger, Kirchen und Zivilgesellschaft – alle sind gefragt, die Politik vorneweg.
Die Skandinavier zeigen Wege, wie sich Solidarität in Familien mit einem ausgebauten Sozialstaat auf kommunaler Ebene verbinden und synergetisch kombinieren lassen. Die Bereitschaft zur Sorge braucht, darauf weisen soziologische Befunde hin, einen aktiven Sozialstaat. Die Sorge, ob für Kinder, Nachbarn oder „Alte“, sie gilt es wieder in die Lebensgestaltung zu integrieren, Zeitpolitik wird dafür wichtig.
Das Leitbild der Sorgenden Gesellschaft
Am Anfang des neuen Jahrhunderts versuchte Rot-Grün in Deutschland eine Debatte über die Zivilgesellschaft anzustoßen. Den „den zunehmend individualisierten und fragmentierten Gesellschaften des spät- und postindustriellen Typs verspricht Zivilgesellschaft eine Antwort auf die drängende Frage, was diese Gesellschaften überhaupt noch zusammenhält“ (Kocka 2003). Leider verhalte dieser Diskurs nahezu ungehört oder wurde aufgrund der dann folgenden Agenda-Politik als Depolitisierungsprogramm kritisiert.
Sozialdemokratische Politik stärkt diejenigen, die hart arbeiten und sich an der Finanzierung gesellschaftlicher Solidarität beteiligen. Eine sorgende Gesellschaft – als Leitbild der Gesellschaft des langen Lebens – benötigt Solidarität aller statt Egoismus einiger. Sie kann die Antwort sein auf die drängenden Fragen der sozialen Sicherungen unter finanziellen Restriktionen des Staates.
Der Begriff der „Sorgenden Gesellschaft“ leitet sich ab von den „Caring Communities“ der Pflege- und Behindertenpolitik und beschreibt die Verzahnung von Vereinen und Initiativen mit professionellen Anbietern sozialer Dienste und kommunaler Politik und Verwaltung. Eine solche Erneuerung der Zivilgesellschaft als Verantwortungsgesellschaft mit einem starken Staat kann die Antwort der Sozialdemokratie sein auf die Herausforderungen, die vor uns liegen.
Die „Sorgende Gesellschaft“ schafft durch ein Zusammenspiel von Bürgerinnen und Bürgern, Staat, Organisationen der Zivilgesellschaft und professionellen Dienstleistern ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie gestaltet Zukunft vor Ort – unter dem Zeichen finanzieller Restriktionen und den Herausforderungen des demografischen und gesellschaftlichen Wandels.
Wie wir füreinander sorgen, beschäftigt viele Menschen – vor dem Hintergrund des steigenden Pflegebedarfs, der zunehmenden finanziellen Rückzugsgefechte des Staates und der neuen Zuwanderungsströme der letzten Zeit.
Eines der interessanten Ergebnisse der interdisziplinären Forschung in der Gerontologie ist, dass die „Prädiktoren für die fernere Lebenserwartung“ (ISS 2014) nicht primär im hohen Blutdruck und Cholesterinspiegel zu suchen sind, sondern in der Qualität sozialer Netzwerke. Damit wird eine Vorsorgedimension in Bewusstsein gerückt, die auch in Richtung eines Verständnisses von Sorge weist, in dem es nicht primär um Versicherungen geht, sondern um soziale Netzwerke. Für sich zu sorgen heißt, auch für andere Sorge zu tragen. Hier liegt es nahe, den Begriff der Mitverantwortung aufzugreifen.
Die Herausforderung ist somit klar: Wir müssen die Frage des solidarischen Zusammenhalts unter den Zeichen des demografischen Wandels und der Schuldenbremse neu beantworten. Politik muss weiterhin die Sicherung der Teilhabe am sozialen Leben für alle gewährleisten. Um die Sorgefähigkeit der Gesellschaft erhalten zu können, benötigen wir aber eine gemeinsame Anstrengung aller Generationen – füreinander und miteinander. Die zentralen Fragen unserer gemeinsamen Zukunft können nicht an Staat, Markt oder Familie delegiert werden, sie gehen uns alle gemeinsam an. Die Lösung dieser Aufgaben kann nicht (allein) mit neuem Geld geschehen.
Dem Staat aber kommt eine wichtige Rolle zu: Zum einen als Moderator in einem neuen Wohlfahrtsmix insbesondere auf kommunaler Ebene. Zum anderen aber auch durch eine radikale Aufgabenkritik, die Platz schafft für produktive Staatsausgaben (etwa in Form von Infrastruktur, Bildung oder Forschung und Entwicklung) und somit den Weg in eine Postwachstumsgesellschaft abmildern können. Die Belastungsgrenze für die „arbeitende Mitte“ ist erreicht.
Wir benötigen clevere Ideen, die neuen Herausforderungen anzugehen. Eine Gesellschaft, die das Vertrauen in einen tragfähigen Sozialstaat und dessen Institutionen mit der Bereitschaft, Verantwortung für andere zu übernehmen, verbindet meistert die Herausforderung der nächsten zwanzig Jahre. Wir müssen uns auf den Weg zu einer „Kultur der gegenseitigen Aufmerksamkeit und Solidarität“ (Klie 2014) machen.
Der Gesellschaftsvertrag der „sorgenden Gesellschaft“
Sozialdemokratische Politik richtet sich daran aus, jeden Menschen zu einem selbstbestimmten Leben zu befähigen. Politik und Gesellschaft haben die Aufgabe, die Selbstständigkeit der Menschen zu gewährleisten, es darf keine Einschränkung aufgrund von Geburt oder sozialem Status geben. Die sorgende Gesellschaft erneuert den sozialdemokratischen Traum vom Aufstieg durch Leistung. Dafür setzt sie aber auch Selbstverantwortlichkeit und die damit verbundene vorausschauende Verantwortungsnahme für sich selbst voraus.
Leistung muss sich lohnen, denn sie ist die Grundlage unseres Wohlstandes. Wichtig ist aber auch, dass ein neuer Gesellschaftsvertrag die Mitverantwortlichkeit des Individuums für gesellschaftliche Entwicklung wieder betont. Auf dem Weg zur sorgenden Gesellschaft müssen wir (mindestens) die folgenden vier Vereinbarungen zwischen den Generationen festhalten. Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Pflege sowie die Zeitpolitik in den Mittelpunkt gestellt. Damit werden zentrale Fragen für „Sorgende Gemeinschaften“ aufgegriffen.
Wir benötigen das Engagement einander nahe stehender Menschen, von Nachbarn ebenso wie von beruflichen Helfern und Profis. Zudem sollten wir die technischen Möglichkeiten und das bürgerschaftliche Engagement nutzen. Die Verantwortung der Generationen füreinander können wir nicht durch administrativ organisierte Dienstleistungen ersetzen. Und die Voraussetzungen sind nicht schlecht: Kein anderes nord- und westeuropäisches Land verfügt über einen so hohen Anteil an pflegenden Angehörigen wie Deutschland. Klaus Dörner hat für den Bereich Pflege und Demenz daher einmal von der „großen und unsichtbaren Bürgerbewegung“ in Deutschland gesprochen (Klie 2014).
Thomas Klie hat Recht, wenn er schreibt: „Die soziale Sorgefähigkeit ist Voraussetzung für langfristigen wirtschaftlichen Wohlstand“ (Klie 2014). Hier liegt die Chance – aber auch die große Herausforderung – für das älter werdende Deutschland. Wir brauchen ein Miteinander aller Generationen und ein Miteinander aller Akteure. Der Staat wird in Zukunft andere Schwerpunkte setzen müssen. Die Schuldenbremse wird zu einer stärkeren Fokussierung staatlicher Aufgaben führen. Dies wird dann noch verstärkt, solllte es sich rächen, dass notwendige Investitionen im derzeit positiven Umfeld nicht getätigt werden und in der Zukunft unter schlechteren Bedingungen nachgeholt werden müssten. Viele gesellschaftliche Akteure sind also in vielfältiger Weise gefragt, Familien und andere kleine Lebenskreise in ihrer Sorgefähigkeit – für Junge, Alte und sich selbst – zu unterstützen, zu begleiten und zu entlasten. In manchen Fällen sogar, um sie zu ersetzen.
Es bedarf eines neuen Zeitregimes. Die Verantwortungsübernahme für andere, das soziale Miteinander braucht verfügbare Zeit. In einer Zeit, in der die Zeit zum kostbarsten Gut wird, die Beschleunigung zunimmt, die Ausdehnung der Arbeitszeit und Verfügbarkeit für Arbeitszusammenhänge Zeit für das soziale Miteinander beschränkt, sind „Sorgezeiten“ keineswegs selbstverständlich. Beim Thema Vereinbarkeit und Zeitpolitik lohnt es, sich im europäischen Ausland umzusehen. Wie kommt es, dass beispielsweise Norwegen und Schweden bei einem sehr ausgebauten Sozialstaat einen so hohen Anteil an „Sorgezeiten“, Zeiten für die Familienarbeit – über die Geschlechter hinweg – aufweisen.
Auch zeigen uns die skandinavischen Länder exemplarisch, dass freiwilliges Engagement positiv korreliert mit einem aktiven Sozialstaat. Zeitpolitik, die Vereinbarkeit von Erziehung und Pflege, das sind Fragen, die für die „Sorgende Gesellschaft“ hoch relevant sind. Ohne eine solche Zusammenschau und Verknüpfung bleibt das neue Leitbild appellativ.
In den Alterswissenschaften gibt es das Konzept der „Generativität“, um zu erklären, wie im hohen Lebensalter noch ein sinnerfülltes Leben möglich ist. Der Mensch will einen Beitrag zum Fortbestand der Familie, der Gemeinschaft oder der Gesellschaft leisten. Nutzen wir das. Es geht darum etwas zu bewegen. Gehen wir los und versuchen, eine sorgende Gesellschaft zu entwickeln.
Literatur
- Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Prekäre Wahlen. Milieus und soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013. Gütersloh 2013.
- Deubel, Ingolf: Zukunftsinvestitionen trotz Schuldenbremse? Bonn 2011.
- Dürr, Tobias: Welt voller Warnzeichen. In: Berliner Republik 1/2012. Berlin 2012.
- Fukuyama, Francis: The Future of History. Can Liberal Democracy Survive the Decline of the Middle Class? In: Foreign Affairs Januar/Februar 2012. http://www.foreignaffairs.com/articles/136782/francis-fukuyama/the-future-of-history (letzter Zugriff: 23. September 2014)
- Geißler, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands. Aktuelle Entwicklungen und theoretische Erklärungsmodelle. Gutachten im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn 2010.
- Gordon, Robert: Is U.S. Economic Growth Over? Faltering Innovation Confronts the Six Headwinds, NBER Working Paper 18315. Cambridge 2012.
- Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. (ISS) (Hrsg.): Sorgende Gemeinschaften – Vom Leitbild zu Handlungsansätzen. Dokumentation des Fachgesprächs am 16. Dezember 2013. Frankfurt am Main 2014.
- Klie, Thomas: Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in die sorgende Gesellschaft. München 2014.
- Kocka, Jürgen und Merkel, Wolfgang: Neue Balance gesucht. Gefährdet der Finanzkapitalismus die Demokratie? In: WZB Mitteilungen Heft 144. Berlin: Juni 2014, S. 41-44.
- Krugman, Paul: Secular Stagnation, Coalmines, Bubbles, and Larry Summers, New York Times 2014.
- Perger, Werner A.: „Träumen wir vom guten Populismus“, http://www.ipg-journal.de/schwerpunkt-des-monats/populismus-in-europa/artikel/detail/traeumen-wir-vom-guten-populismus-367/ (Letzter Zugriff: 23. September 2014).
- Ruhose, Fedor und Schmitt, Felix: Rot-Grün 2.0. In: Berliner Republik. Das Debattenmagazin 14 (2013), H. 1, S. 78 – 81.
- Schmedes, Hans-Jörg und Ruhose, Fedor: Vertrauen, Teilhabe und Transparenz – Werte und Legitimation von Politik. In: Krell, Christian und Mörschel, Tobias (Hrsg.): Werte und Politik. Wiesbaden i. E.
- Summers, Larry: Rede an der IMF fourteenth annual research conference in honor of Stanley Fischer, 8. November 2013.
Erläuterungen
[1] (1) Nur 22 Prozent trauten der SPD zu, die Wirtschaft in Deutschland voranzubringen, nur 20 Prozent glaubten, dass die Partei di Euro- und Schuldenkrise in den Griff bekommen kann, bei der Union glaubten dies 46 Prozent; (2)+# Kanzlerin Angela Merkel war weit beliebter als Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. 60 Prozent meinen, Merkel mache „nicht Parteipolitik, sondern Politik für das Land“. Es gab keine Wechselstimmung, da es den Menschen gut geht. (3) Die SPD hat mit dem Glaubwürdigkeitsverlust im Bereich der Kernkompetenz soziale Gerechtigkeit zu kämpfen. Insgesamt hat die Union in den SPD-Feldern punkten und die gesellschaftliche Stimmung zu ihren Gunsten drehen können. (4) Die kulturelle Kluft zwischen der SPD und ihrer einstigen Kernklientel, den einfachen Leuten, wächst. (5) Die Union konnte von früheren Nichtwählern 1,13 Millionen Wähler für sich gewinnen, die SPD 360 000. Die SPD verlor 210 000 Wähler an CDU/CSU und immerhin 180 000 an die eurokritische AfD. (6) Die SPD verliert die Wahlen im Osten, diesmal konnte sie nur ein Direktmandat erringen. Dies hat vor allem damit zu tun, dass sie zu wenig personelle Identifikationsfläche im Osten bietet.
[2] Natürlich gibt es viele Vorbehalte gegen den Begriff der Sorge. Mit Thomas Klie kann man Sorge als vorausschauende anteilnehmende Verantwortungsübernahme für sich selbst und andere umschreiben. Dann empfinde ich den Begriff als hochaktuell. Schon Hannah Arendt verwies darauf, dass die soziale und gesellschaftliche Bezogenheit des Menschen zum Kern menschlicher Existenz gehört.