Schlagwörter
Fair Use, Finanzmärkte, Privatsphäre, Sicherheit, Unsicherheitszone, Urheberrecht
Ein Essay zum Themenschwerpunkt „Sicherheit“ von Leonhard Dobusch.
»Es gibt keine Sicherheit, es gibt nur das Bedürfnis nach Sicherheit.«
— teresa m. bücker (@fraeulein_tessa) 15. Februar 2013
Totale Sicherheit bietet nur der Tod. Leben spielt sich in Unsicherheitszonen ab, deren Grenzen aber bis zu einem gewissen Grad immer prekär sind, ja sein müssen. Die Attraktivität von Sicherheit resultiert deshalb paradoxerweise aus ebendiesen Unsicherheitszonen. Erst jene Aspekte des Lebens, die nicht komplett „gesichert“ sind – Liebe, Kultur, Politik, Sinn – machen es lebenswert. Sicherheit ist deshalb die Kehrseite von Platons Freiheitsparadox, das die Einschränkung von Freiheiten insoweit befürwortet, insofern sie der Freiheit – vor allem der Schwächeren in – einer Gesellschaft selbst dienen. Analog ließe sich sagen, Sicherheit ist nur insofern wünschenswert, insoweit sie der Begrenzung und Bewahrung jener Unsicherheitszonen dient, deretwegen wir Sicherheit überhaupt erst anstreben. Bei Unsicherheitszonen handelt es sich also im Derridaschen Sinne um das eingeschlossene Ausgeschlossene von Sicherheit.
Die Bedeutung von Unsicherheitszonen für Sicherheit und warum deren Aufrechterhaltung eine unendliche und tendenziell konfliktträchtige Aufgabe ist, soll im Folgenden beispielhaft an Hand einer bedrohten, einer fehlenden und einer ausufernden Unsicherheitszone illustriert werden.
Bedrohte Unsicherheitszone: Privatsphäre.
Privatsphäre und das mit ihr verbundene Verbot von anlassloser Überwachung ist die klassisch-liberale Unsicherheitszone schlechthin. Was in den eigenen vier Wänden gedacht und getan wird, ist – von klar definierten Ausnahmen abgesehen – privat und damit vor Veröffentlichung geschützt. In manchen, höchstpersönlichen Bereichen wie jenen des Sexual- und Familienlebens ist der Schutz sogar so weitgehend, dass beispielsweise im Falle unzulässiger medialer Berichterstattung auch ein Wahrheitsbeweis irrelevant ist: manche Dinge gehen einfach niemanden etwas an.
Bedroht ist die Unsicherheitszone Privatsphäre just durch den Einsatz jener Technologie, die ebenso häufig wie falsch als unsicherer, ja bisweilen „rechtsfreier Raum“ beschrieben wird: das Internet. Je schwerer die Unterscheidung zwischen Online und Offline im Alltag fällt, desto tiefere Einblicke ermöglichen digitale Technologien privaten wie staatlichen Akteuren. Während die einen getrieben von Profitinteressen Datenschutz aushöhlen und Berge personenbezogener Daten anhäufen, wecken eben diese Datenberge Begehrlichkeiten staatlicher „Sicherheitsbehörden“. Als Rechtfertigung für anlasslose Speicherung umfassender Telekommunikationsdaten im Zuge der Vorratsdatenspeicherung dienen terroristische Bedrohungen, verteidigt durch die unseligste aller Behauptungen im Zusammenhang mit Privatsphäre: Wer nichts zu verbergen hat, habe auch nichts zu befürchten.
Die beste Replik auf diesen Stehsatz ist jedoch jene des EU-Menschenrechtsbeauftragten Stavros Lambrinidis, der die Bedeutung von Unsicherheitszonen für ein lebenswertes Leben noch einmal unterstreicht:
If you have nothing to hide: Get a Life!
Fehlende Unsicherheitszone: Fair Use im Urheberrecht.
Welch negative, lebensfremde Folgen das Fehlen von Unsicherheitszonen haben kann, zeigt sich im Internet aber auch an anderer Stelle, nämlich in der aktuellen Auseinandersetzung um das Urheberrecht in der digitalen Gesellschaft. Europa setzte im Urheberrecht traditionell auf möglichst große Rechtssicherheit. Sämtliche Rechte an einem urheberrechtlichen Werk bleiben automatisch vorbehalten und nur in genau definierten und abschließend aufgelisteten Ausnahmefällen („Schranken“) darf davon abgewichen werden (z.B. für Zitate oder die Verwendung im Unterricht). In Europa ist klar: was nicht explizit gesetzlich erlaubt ist, ist verboten.
Die Schattenseite dieser Rechtssicherheit wurde jedoch spätestens mit dem Internet offensichtlich, als sich alltägliche Nutzungspraktiken häufig und schnell zu ändern begannen. Innovative Unternehmen wie Storify oder Pinterest bieten neue Wege für das Sammeln, Sortieren und Teilen digitaler Inhalte, die in Europa eigentlich illegal sind. Selbst wer nur Links auf Facebook teilt verletzt damit häufig Urheberrechte, weil dabei automatisch ein Bild der Webseite mit eingebunden wird (vgl. Spiegel Online). Gründungen wie YouTube wären in Europa ohnehin kaum möglich gewesen.
Im US-Copyright stellen sich viele dieser Fragen nicht. Dort findet sich an Stelle eines Katalogs von Ausnahmen eine allgemein formulierte Fair-Use-Klausel. Erlaubt ist, was die herkömmliche Verwertung nicht substantiell untergräbt. Ob das der Fall ist, entscheiden Gerichte. Unternehmen aber auch kreative Privatnutzer können in dieser urheberrechtlichen Unsicherheitszone innovativ sein – und zwar ohne dass das Gesetz ständig angepasst werden muss (vgl. dazu auch „Gelobt sei die Grauzone„).
Ausufernde Unsicherheitszone: Finanzmärkte.
Klarerweise gibt es aber auch das umgekehrte Problem ausufernder Unsicherheitszonen, zu beobachten beispielsweise im Bereich fehlender oder fehlgeleiteter Regulierung von Finanzmärkten. Grundsätzlich gilt auch für ökonomische und soziale Sicherheit, dass ihr Wert unter anderem in der Ermöglichung von Erwerbsfreiheit – beruflicher Selbstverwirklichung und innovativem Unternehmertum – und damit wirtschaftlichen Unsicherheitszonen besteht. Die Produktivität der Unsicherheitszone Markt ist aber auf Rahmenbedingungen und Voraussetzungen angewiesen, die der Markt selbst nicht hervorzubringen im Stande ist: Verteilungsgerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, fairer Wettbewerb.
Es geht also um eine Balance zwischen innovativer Dynamik in wirtschaftlichen Unsicherheitszonen einerseits und dem Ausgleich sozialer Verwerfungen, ökologischer Externalitäten und monopolistischer Tendenzen andererseits – und zwar nicht nur im öffentlichen Interesse sondern zur simplen Aufrechterhaltung marktwirtschaftlicher Produktivität selbst.
Was die Regulierung von Finanzmärkten so besonders schwierig macht, ist der Umstand, dass dort system-destabilisierende Innovation vor allem in Phasen von Stabilität und Sicherheit passiert: Minskys „Financial Instability Hypothesis“.[1] Im Vorfeld der jüngsten Wirtschaftskrise haben deregulierte Finanzmärkte zu einer Reihe von „innovativen“ Finanzprodukten geführt, deren anfängliche Erfolge die Finanzialisierung, d.h. eine starke Finanzmarktorientierung,[2] immer weiterer Bereiche der Wirtschaft zur Folge hatten. Damit verbunden wiederum waren eine Verlagerung von Investitionen, Profiten und Vermögen in den Finanzsektor – eine Entwicklung, die nicht (nur in diesem Fall nicht) nachhaltig war. Die Einsicht in unzureichende Regulierung kommt deshalb in der Regel zu spät – erst nach dem Crash – und greift häufig zu kurz, weil diejenigen, die vor dem Crash Gewinne gemacht haben, danach mit diesem Geld gegen wirksame Regulierung lobbyieren.
Fazit
Sicherheit ist nur im Zusammenspiel mit Unsicherheitszonen wünschenswert. Ein Mehr an Sicherheit ist deshalb nicht immer erstrebenswert und trügerische Sicherheit mag bisweilen einer der Gründe für zukünftig eskalierende Unsicherheit sein. Die Gestaltung dieses Spannungsfelds zwischen Sicherheit und Unsicherheitszonen ist dabei eine inhärent politische und prinzipiell endlose Aufgabe, die sich angesichts neuer technologischer, sozialer oder ökonomischer Entwicklungen immer wieder in neuem Gewand stellt.
[1] Minsky, H. (1986): Stabilizing an Unstable Economy. McGraw-Hill.
[2] Vgl. dazu bspw. Botzem, S./Dobusch, L. (2012): Dienstleister der Finanzialisierung: Fragmentierte Organisation und kalkulierte Profite in der Immobilienwirtschaft. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 64, 673-700.